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mit hartmut, runhild und der suppe fahren wir nach jena, der stadt der optik.
hier befindet sich ein teil des traditionsreichen, von carl zeiss 1846 gegründeten werkes für optische geräte. als neues wahrzeichen gilt das zu ddr-zeiten im zentrum errichtete hochhaus, genannt die keksrolle. geplant war ein zweiter, mit dem ersten durch eine brücke verbundener turm. das ensemble sollte einen feldstecher symbolisieren, als zeichen der optischen industrie in jena. das geld hat für den zweiten turm nicht gereicht und so ist der turm kein symbol für den weitblick, sondern eher dafür, dass das alte sed-regime auf einem auge blind war.

jena macht den eindruck einer leicht verschlafenen universitätsstadt. sie liegt inmitten der sanften, thüringischen hügellandschaft. das schwer kriegsbeschädigte zentrum wurde nach dem krieg neu aufgebaut. das anatomische institut, in dem der geheime goetherat den zwischenkieferknochen entdeckte, steht noch unversehrt an seinem platz.
goethe ist sowieso allgegenwärtig. geradezu aufdringlich wird seine gegenwart in weimar, der stadt, in die wir am nachmittag fahren.
die europäische kulturhauptstadt von 1999 ist eine herausgeputzte museumsstadt mit großer geschichte. das geistige zentrum der deutschen klassik mit ihren exponenten, goethe, schiller, herder, wieland und für kurze zeit das politische zentrum, als tagungsort der verfassunggebenden nationalversammlung von 1919. es gibt das goethehaus mit garten, das schillerhaus mit sterbezimmer, den friedhof, wo angeblich schiller verscharrt wurde und goethes frau christiane vulpius tatsächlich begraben liegt, das goethe-schillerdenkmal mit lorbeerkranz und die thüringer rostbratwurst.
weimar ist durchaus eine sympathische stadt mit einer etwas üppigen präsenz an gedenkmöglichkeiten. dem leicht verstaubten, musealen charakter wirkt die lebendigkeit einer universitätsstadt entgegen. ausdruck einer rebellischen gesinnung ist ein bereits zu ddr zeiten von alternativen besetztes, bunt bemaltes haus, das optisch einen interessanten kontrapunkt zu den restaurierten barocken und klassizistischen fassaden bildet.

während wir alte städte besichtigen, wartet die suppe geduldig im kofferraum auf ihren nächsten auftritt in schöndorf bei weimar.
wir sind dort am abend bei dorothee und jörg eingeladen. sie erwarten uns bereits mit einem berg an verschiedenen gemüsen, würsten und kräutern. ein 30l topf steht bereit.
als gäste sind außer uns beiden und hartmut und runhild noch barbara und ihr mann tobias, sowie christa mit ihrem mann hermann geladen. gemeinsam wird geschnipselt, geschält und geschnitten. der topf beginnt langsam auf dem offenen grillfeuer zu dampfen und zu brodeln. jörg serviert bier und selbstgekelterten pflaumen- und sauerkirschwein, der die gemüter der gäste langsam aber sicher illuminiert und zu unterhaltsamer und geistreicher konversation beiträgt.

hermann ist emeritierter professor für denkmalpflege an der universität weimar. ich schneide daher erneut das thema selektiver rückbau des palastes der republik an. er meint dazu nur lapidar, dass diese bezeichnung höchstens ein fauler kompromiss an unverbesserliche sed-ler sei. im grunde ist die sache beschlossen: hier wird das alte schloß wiedererrichtet. den einwand, dass es nicht viel sinn macht, nach 50 jahren ein altes gebäude 1:1 wiederaufzubauen, da es einerseits nichts mit denkmalpflege zu tun hat, wenn das zu konservierende oder zu erhaltende bauwerk nicht mehr existiert und dass es andererseits eine chance böte, eine architektonisch zeitgemäße antwort auch auf die geschichtlichen bezüge und historischen bedingungen zu finden, läßt hermann nicht gelten. hermann, ein belesener ,eloquenter und vorallem auch humorvoller gesprächspartner führt einige durchaus interessante argumente für die wiedererrichtung des schlosses an.
zunächst sei der abriss des schlosses mit dem argument der beseitigung eines absolutistischen herrschersymbols nicht haltbar, da bereits nach dem 1. weltkrieg das schloß als allgemein zugängliche kulturinstitution genutzt worden ist. aus diesem grund sei die schleifung des schlosses ein reiner akt der barbarei gewesen, der rückgängig gemacht werden müsse, um auch der nachwelt die geschichtliche kontinuität diese platzes zu bewahren. daran schließt sich ein baugeschichtliches, architektonisches argument. das schloß sei die zentrale achse, auf die sich alle umgebenden gebäude beziehen. mit der wegnahme des schlosses zerfalle der zentrale bezugspunkt des gesamten umgebenden gebäudeensembles. auf mehrfachen einwand, dass ein zeitgemäßer neubau der totalrekonstruktion eines zerstörten gebäudes vorzuziehen sei, kontert hermann mit einer reihe von beispielen: die römer kopierten ohne probleme eine reihe griechischer gebäude 1:1, der campanile in venedig wurde nach seinem einsturz 1902 sofort und ohne disskussion wiedererrichtet und wenn morgen der stefansdom in wien aus irgendwelchen gründen in sich zusammenstürzte, so gäbe es mit sicherheit einen breiten konsens darüber, ihn sofort wieder aufzubauen.
ich führe als gelungenes beispiel einer verbindung neuer architektur mit kriegsbeschädigten, historischen gebäuden die berliner gedächtniskirche an. zu meiner überraschung erfahre ich, dass die heute vielfach bestaunte lösung gegen den massiven widerstand des architekten und nur durch den druck einer bürgerinitiative zustande gekommen ist. langsam merke ich, dass die diskussion um zerstörung, abriss, neubau, wiederaufbau, nachbau oder umbau eine frage über den symbolwert von architektur ist und gleichzeitig damit eine frage, wie geschichtliche ereignisse beurteilt und bewertet werden. dass der abriss des republikpalastes nicht bloß durch denkmalpflegerische absichten motiviert ist, sondern dabei auch revanchistische gründe eine rolle spielen, scheint mir offensichtlich zu sein. dass der hang zum revanchismus seine handfesten gründe hat, wird mir später in leipzig klar. dort werde ich mit einem unfaßbaren akt willkürlicher barbarei konfrontiert.

der abend bei dorothee und jörg endet äußerst heiter und ausgelassen. trotz guter suppenunterlage entfalten die geistigen getränke ihre wohltuende wirkung. jörg kippt vorzeitig in die horizontale, tobias verliert einigemale auf nicht unbedenkliche weise das gleichgewicht und hermann entwickelt zunehmend grandiosere aber leicht verworrene philosophische theorien. er postuliert den eigentlich zweck des daseins in der entwicklung von innerer ruhe und gelassenheit in verbindung mit äußerer harmonie und nach ausführlicher extemporation taoistischen gedankengutes in synthese mit nietzsches fröhlichem weltschmerz eröffnet er der stark erheiterten tischgesellschaft, dass sich dies alles mit einem einzigen begriffe benennen lasse, nämlich mit – wir alle warten gespannt auf diesen einen, als weltformel angekündigten begriff: denkmalpflege.

koch: dorothee und jörg
rezept: Suppe vom Grill
galerie: suppe vom grill
koordinaten: 51.012816, 11.343748

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